Siegburger klagt an: "Ich saß sieben Monate unschuldig im Knast" - Rheinland - Nachrichten - WDR

2022-07-23 07:42:09 By : Ms. Miranda Wei

Lokalzeit2go - Bonn . 19.01.2022 . 04:07 Min. . Verfügbar bis 19.01.2023 . WDR Bonn .

Fast sieben Monate saß Antonino Razzini in Untersuchungshaft. Lange Zeit hielten Staatsanwaltschaft und Polizei ihn für den Hauptverdächtiger eines brutalen Verbrechens. Der Vorwurf: Mitte März sollte der 51-Jährige in Siegburg einen Bekannten erschossen haben. Jetzt ist der Siegburger wieder raus aus dem Knast, weil Richter glauben, dass er nicht der Täter ist.

"Ich habe nicht nur meine Freiheit verloren", sagt Razzini nach sieben Monaten in der JVA Köln. „Sondern auch meinen Job und meine Sachen. Obwohl ich immer wieder beteuert habe, dass ich unschuldig bin. Meinen Führerschein habe ich bis heute nicht zurück“, erzählt der Italiener. "Ähnlich ist es mit dem Glauben in die Justiz."

Die Geschichte, die Razzinis Leben "von heute auf morgen auf den Kopf stellt", beginnt Mitte März, als ein Bekannter von ihm tot in seiner Siegburger Wohnung gefunden wird. Kay B. wird regelrecht hingerichtet: durch neun Schüsse in Gesicht und Kopf. Schnell hat die Polizei einen ersten Verdächtigen: Michel O. Der ist wegen illegalen Waffenbesitzes vorbestraft. Bei einer früheren Durchsuchung hatten Ermittler in seiner Wohnung mehrere griffbereite, scharfe Waffen gefunden. Außerdem sagen Zeugen aus, dass er mit dem Toten Streit hatte. Er habe Kay B. sogar Gewalt angedroht, weil der ihm zusammen mit einer Freundin angeblich mehrere Tausend Euro gestohlen hätte.

Zwei Wochen später wendet sich das Blatt. Spezialeinsatzkräfte stürmen die Wohnung von Antonino Razzini und dessen Lebensgefährtin Heike und nehmen ihn fest. Razzini ist plötzlich Hauptverdächtiger in dem Fall, weil Beamte in der Wohnung des Opfers Kay B. DNA von ihm gefunden haben. "Was ganz einfach zu erklären ist“, hält Razzini dagegen. „Ich habe ein paar Monate vor der Tat zur Untermiete dort gelebt. Daher gab es am Tatort auch DNA von mir."

Der Bonner Staatsanwaltschaft reicht diese Erklärung aber nicht aus. "Wenn wir in der ganzen Wohnung DNA-Spuren von ihm gefunden hätten, wäre das damals glaubhaft gewesen", sagt ein Sprecher der Behörde. "Wir haben aber nur an drei Stellen die DNA des Verdächtigen gefunden. Unter anderem ausgerechnet an einem Kissen, das der Täter als Schalldämpfer benutzt hat. Durch das er durchgeschossen hat. Deshalb bestand zum Zeitpunkt der Festnahme ein dringender Tatverdacht gegen Herrn Razzini."

Die Bonner Ermittler glauben auch Razzinis Motiv zu kennen. Der sei damals im Streit aus der Wohnung geflogen, schulde Kay B. außerdem noch 200 Euro Miete. "Aber genau das spricht eher dagegen, dass mein Mandant ihn überhaupt noch einmal aufsucht", kritisiert Strafverteidiger Peter-René Gülpen, der Antonino Razzini vertritt. "Außerdem hatten die Ermittler auch DNA-Spuren von Michel O. in der Tatwohnung gefunden."

Für Polizei und Staatsanwaltschaft bleibt Antonino Razzini trotzdem der Hauptverdächtige. Auch als Ende August ein weiteres brutales Verbrechen die Menschen im Rhein-Sieg-Kreis erschüttert. In Windeck wird die vierfache Mutter Jaqueline G. erschossen. Auch sie stirbt durch neun Schüsse in Gesicht und Kopf. Der Täter richtet sich danach selbst. Beamte finden seine Leiche direkt neben der von Jaqueline G. Es ist Michel O., der erste Tatverdächtigen im Siegburger Mordfall. Neben ihm liegt die Tatwaffe: eine Maschinenpistole.

Jaqueline G. hatte Wochen zuvor die Polizei um Hilfe gebeten, weil Michel O. auch sie offenbar massiv bedroht hatte. Zusammen mit dem ersten Opfer Kay B. habe sie ihm mehrere Tausend Euro gestohlen. "Spätestens jetzt, bei all den Parallelen und Verbindungen, die beide Fälle aufweisen, hätte den Ermittlern klar werden müssen, dass mein Mandant unschuldig ist", sagt Anwalt Gülpen.

Stattdessen aber klagt die Bonner Staatsanwaltschaft Antonino Razzini einen Monat später, im September 2021, wegen Totschlags an. Zu einem Strafprozess kommt es aber nicht, weil das Bonner Landgericht die Anklage nicht zulässt. Die Richter lehnen eine Eröffnung des Hauptverfahren ab, "weil der Angeschuldigte [...] einer Straftat nicht hinreichend verdächtig ist", heißt es in dem Beschluss der zuständigen Kammer. Sie hebt den Haftbefehl gegen Razzini auf und ordnet an, dass der 51-Jährige für die erlittene Untersuchungshaft zu entschädigen ist.

"Die Richter haben das gemacht, was die Ermittler längst hätten tun müssen", so der Vorwurf von Rechtsanwalt Gülpen. "Sie erkennen die Zusammenhänge zwischen beiden Taten." Ein Waffengutachten, dass die Strafkammer beim BKA in Auftrag gibt, ergibt: Es ist nicht auszuschließen, dass sowohl Kay B. als auch Jaqueline G. mit ein und derselben Waffe, einer Maschinenpistole des Typs UZI, getötet wurden. Es handelt sich um die Waffe, die am zweiten Tatort in Windeck sichergestellt wird. Die Bonner Richter kommen zum Schluss, dass Antonio Razzini, im Gegensatz zu Michel O., kein Motiv für die Taten hatte.

Gegen den Beschluss des Landgerichts, die Anklage nicht zuzulassen, legt die Bonner Staatsanwaltschaft Beschwerde ein. Die hat das Oberlandesgericht Köln jetzt als unbegründet verworfen – und damit die Entscheidung der Bonner Richter bestätigt.

Nach sieben Monaten in Untersuchungshaft kommt Antonino Razzini nur langsam zurück in sein altes Leben. Auch dank der Unterstützung seiner Partnerin Heike: "Die Zeit im Gefängnis war sehr hart. Ohne sie hätte ich das nicht überstanden", sagt der gelernte Maler und Lackierer. Mittlerweile hat er einen neuen Job in Aussicht. Und die Haftentschädigung. "75 Euro für jeden Tag, den ich unschuldig im Gefängnis gesessen habe. Glauben Sie mir: Ich hätte lieber meine Freiheit behalten."

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